top of page

Reisevorbereitungen

Nehru nahm den Platz des karierten Pullovers ein, dessen Farben sie nicht zuordnen konnte. Nicht nur ihrer Rot-Grün-Schwäche wegen, sie interessierte sich einfach nicht für seine Farben. Er nahm Platz, Platz den sie brauchte, der Bücher wegen. Und weil sie Nehrus Discovery of India einer Nationalismus-kritischen Analyse, im Vergleich mit Golo Mann und Ernst Engelbert unterziehen wollte, blieb kein Raum für Karo. Sie bemerkte die erstaunliche Ähnlichkeit ihres Schreibens mit rechtspopulistischer Rhetorik, seit sie am Morgen über den Schweizer Volksentscheid am Sonntag, dem 28.02.2016, also diesem Sonntag, jenem morgigen Sonntag, der, wie es die Schreibende einer großen deutschen Zeitung formulierte, zeigen wird, was Mehrheit wiegt: die Angst vor dem Rechtspopulismus und dem Aussetzen von Demokratie und Rechtstaatlichkeit, die Romanschreibende selbst hatte gerade in einer öffentlichen Toilette die Banalität des Parlamentarismus gelebt, oder die Angst vor dem konstruierten Fremden. Der gleiche dunkelbraune Feminismus wie in Deutschland, eine führende Politikerin der Schweizer nationalkonservativen Partei, die als einzige den Entscheid vorantrieb, erinnerte dankenswerterweise daran, dass 61%, in Worten einundsechzig Prozent, mit gerolltem R bitteschön, der Vergewaltiger gleichzeitig auch Ausländer waren. So einfach die Welt, so einfach das Kreuz am Sonntag: Für den Feminismus und für den Rassismus. War sie enttäuscht, in brennender Sorge? Insgeheim war sie froh, dass in Deutschland dem Volk als Verfassungsorgan nicht zugemutet wurde, das Grundgesetz außer Kraft zu setzen, nicht in einer einfachen Abstimmung, nicht in politisch geladenem Rechtspopulismus und antifaschistischem Versagen, nicht in Geschichtsignoranz, einfach nicht. Direkte Demokratie, für die sie an dunklen Tresen und abends auf dem Markt, passioniert argumentierte, war sie in diesem Augenblick bereit zu verraten, das schlimmere Übel abzuwenden. Begrenzt demokratischer Parlamentarismus war ihr immer noch lieber, selbst in seiner Pathetik der Wahlurne, fünf Minuten politischen Handelns, als ein Volk, das zur Mehrheit aufgehetzt, entschied. Dabei war dies in keinster Weise ein politischer Kampf, der ihren Widerstand oder Zuspruch forderte, noch ihrer Meinung bedarf. Es ging einzig darum, einen Rucksack zu packen. Sie fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, die rechtspopulistischen Zeilen über die Abschiebung von Karo-Pullis zurück in den Kleiderschrank zu stecken einfach zu löschen. Ein Kochlöffel fiel hoch klappernd von der Wand auf die Dielen, Holz auf Holz.


Sie telefonierte mit dem Bruder, der beim Großvater zu Besuch war, den sie um kaum zwei Stunden verpasst hatte. Die Bewerbung sei gut verlaufen, er sei abgelehnt worden. Das sei gut, versicherte ihm die Schwester, solange er damit zufrieden sei, sei es nicht an ihm gelegen. Ja, widersprach der Bruder nicht, jedes Bewerbungsgespräch sei auch ein Lernen über sich selbst. Wie die Atmosphäre war, wollte sie wissen, ob kompetetiv. Der Bruder entschuldigte sich, sie versuchte eine Übersetzung ihres Anglizismus mit wettbewerbig, der Bruder lachte und verneinte. Es sei entspannt gewesen, nur im Spaß habe man sich als Konkurrierende verstanden (aha!, da war das Gesuchte, das Entfallene, das Wort). Ob sie ihm aus Israel etwas mitbringen sollte, einen Hertzel-Jute-Beutel vielleicht, oder eine Kippah? Der Bruder schüttelte den Kopf (was sie nicht sehen konnte), nur wenn dir was ins Auge springt. Zweifelhaft, notierte sie stillschweigend, sie kannte den Bruder nicht gut genug, dass sie ein Gefallenes anspringe. Besser so, meinte er, besser ohne Kippah, selbst unter der Mütze. Besser sicher sein. Ihre Gespräche waren immer so einseitig betrieben. Sie erfand einen Laden in Berlin, in dem sie einen Menschen mit kreisrund bedecktem Haar nicht angesprochen hatte, eine Lüge um dem Bruder die Absurdität jüdischer Existenz und Präsenz in diesem Land auszureden. Hut ab, witzelte der Bruder, um dann nachzuhaken, ob sie verstanden habe. Habe sie, lachte sie falsch. Der Bruder schien sich nicht unwohl mit dem Wort ‚Jude‘ zu fühlen, und sprach weiter: Hut ab vor einem solchen Glauben, und gestand sein Privileg ein, das Kreuz um den Hals nicht unter dem T-Shirt verstecken zu müssen. Die Schreibende hatte auch einst ein Kreuz getragen, aber sie hatte es immer versteckt, nur daheim geöffnet. Aber das verschwieg sie dem Bruder, genauso ihre Sorge aufgrund seine missionarischen Positionen, und wünschte ihm eine gute Zeit. Er legte auf, oder die Schwester, sie war sich nicht mehr sicher.


Die Einsamkeit ihrer Fragen, die Isolation ihrer Positionen, die Entfremdung ihrer Beziehung. Bruder und Schwester waren nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie waren beide unwiederbringlich gewachsen, und hatten vom anderen nicht viel mitbekommen, Geschwister hin oder her. Trotzdem konnten sie reden, besorgt sein, Schneerutschen bauen und fahrradfahren. Es war eben anders. Sie, die ältere Schwester, der Fremdkörper in der Familie, die Unverstandene und Unverständliche, die allen das Leben schwer machte, und deren Entscheidungen nur Sorgen brachten. Er, der jüngere Bruder, der Widersprechende und Rebellische, der wusste, was er wollte, und was er wollte lag nicht weit von den Eltern, der nachvollziehbar wuchs und der dicht geblieben war, dicht genug, verstanden zu werden. Er war der Sohn, nicht sie, und obwohl sie die Eltern genauso liebten, war es doch anders. Sie wurde mit Sorge geliebt, ihr wurde verzweifelt gepredigt, weil es keinen Ausweg gab. Er wurde hart geführt, konsequent bestraft, und sein Aufbegehren sah man mit Stolz, mit Anerkennung wurde er geliebt. Sie machte es den Eltern nicht einfach.


Mittlerweile saß sie auf gepackten Koffern. An diesem Samstagmittag hatte sie noch einige Stunden bis zum Abflug, musste noch zu Mittag und Abend essen, das Handgepäck richten, die Mitfahrgelegenheit nach Berlin unterhalten, oder schlafen, nicht krank werden, die Nacht am Flughafen verbringen, aber grundsätzlich war sie im freieren Sinn des Wortes fertig. Ihr imponierte diese Stimmung, dieses Vorahnen des Aufbruchs, an dem nichts zu tun war, außer das Warten. Wenn alles gepackt war, und sie noch einen Spaziergang durch die letzten Stunden ihrer Stadt machte, fast wehmütig die grün verpackten Häuser betrachtete, und langsam auf dem Asphalt der Mühlbrücke zur Saale hin. Sie wird zu Mittag essen, spazieren, und wiederkehren um zu lesen. Sie ging nach unten in die Küche, entschlossen, Handlung abzubilden. Ein Blick in ihr Regalfach war ernüchternd; wie auch anders, erst gestern war sie zurückgekehrt, und hatte nur Brot eingekauft. Nur Brot also, seufzte sie im Stillen, und schnitt dicke Scheiben an der Brotmaschine, die sie in ihren ersten Wochen nicht benutzt hatte, weil sie sich für ihre Unwissenheit schämte, bis sie schließlich des Nachts und bei genauerer Untersuchung vom Hunger und untauglichen Messern getrieben feststellte, dass auf der Rückseite noch ein weiterer Knopf zu drücken war. Die Maschine lief ohne Schwierigkeiten, und servierte ihr drei Scheiben, die sie, nicht ohne vorher die ansonsten zum Verbrennen neigenden Deko-Körner abzustreichen, in den Toaster steckte, und anschaltete. Hier war der Mechanismus intuitiv, jedenfalls für eine halbwegs technologisiert Sozialisierte wie sie es war. Das Warten, das sie weniger genoß als das vor dem Aufbruch, aber das ihr dennoch nichts ausmachte, vertrieb sie sich mit der Lektüre eines Briefs der Mutter, den sie auf dem Weg in die Küche aus dem Postfach fischte. Die Mutter antwortete ihrem jüngsten Brief, berichtete Erfreuliches, bedachte Bedenkliches und mahnte zur Vorsicht. Schließlich legte sie die Brotscheiben auf einen Teller, ohne das Klacken abzuwarten, und stieg die Treppen mit einem Marmeladeglas in der Hand wieder hinauf, um dann auf dem Boden sitzend in ihrem Zimmer Mahl zu halten. Sie aß gerne auf dem Boden, verbot sich aber, dabei etwas anderes zu tun. Sie war aufgewachsen mit Mittagessen und besonders Abendbrot als etwas Heiligem, von dem auch ohne verrichtetes Gebet nicht abgelenkt werden durfte, um der Arbeit der Menschen und Tiere im Brot und im Apfel-Brombeer-Aufstrich zu gedenken. Wenn sie aß, dann aß sie, das blieb unhinterfragtes Prinzip.


Der Karo-Pullover wird doch mitkommen, und zwar am Leib getragen. Sie änderte nichts an der Position des Kochlöffels auf den Dielen und setzte sich mit dem Rücken zur Heizung. Sie fror seltsam, und auch sonst fühlte sie sich unwohl. Nicht krank werden, schalt sie sich, als ob sie Ohren hätte darauf zu hören. Kalte Füße, warmer Rücken. „Der Staat ist nichts als diese Beherrschung und Ausbeutung reglementiert und systematisiert.“ So jedenfalls Bakunin, bevor er kristallklar darlegt, weshalb Macht selbst die Besten verderbe.


Sie wird der Mutter antworten, und der alten Freundin, die sie einmal ihre nannte, dazu packte sie sich Kugelschreiber und einige Bögen weißes Papier ein, um nicht ihr Notizbuch auseinanderpflücken zu müssen, dazu die Briefmarken, die die Großmutter dem letzten Brief beigefügt hatte, als subtiler Hinweis ihr doch auch einmal zu schreiben. Die Enkelin hatte heute angerufen, zur sichtlichen Freude der Großmutter. Schließlich hatten sie sich seit Weihnachten weder gesehen noch wirklich gehört. Was sie nur mit so vielen Sprachen wolle, die Großmutter konnte fragen stellen. Da fiel ihr ein, dass sie noch duschen wollte, bevor es losging. Frisch geduscht, gekleidet und rasiert brach es sich besser auf.

Recent Posts

See All

was soll trans geschichte?

Trans Geschichte handelt von den Optionen, die Menschen hatten, von den Erwartungen, die mit einem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht zusammenhingen, abzuweichen. Trans Geschichte handelt von k

wörterbuch: sternchen

Was sind eigentlich ›Frauen*‹? Was soll der Stern? Zwei Möglichkeiten: 1. Der Stern soll zeigen, dass ›Frauen‹ ein soziales Konstrukt ist. Okay, aber was sagt dass dann über Dekonstruktionsarbeit, wen

Post: Blog2_Post
bottom of page