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istanbul, rollband, 2016

Sie erreichte das Gate über die Rollbahnen, die stets einen Hauch der Magie verströmten, die das Technologiezeitalter nicht nur übriggelassen sondern selbst kreiert hat. Weil sie im Stehen ging, rollte, nahm sie langsames Fortschreiten unheimlich beschleunigt wahr, wie im kosmonautischen Film. Die Schwerelosigkeit trug sie zum zweiten übersinnlichen Medium. Der Flughafen verfügte über eine freie Wlan-Verbindung. Sie hatte nicht über Brüssel schreiben wollen, nun tat sie es doch. Bald wird sie nicht mehr wissen, was sie mit Brüssel meinte, oder mit Paris, oder Köln. Damals standen die Namen der Städte als Zeichen nicht nur für die Attentate, die in innerhalb ihrer Mauern begangen wurden, sondern auch stets für eine Verschärfung des Diskurses, aus dem stets rechtspopulistische Parteien den Sieg davontrugen. Paris wurde aufs Ekelhafteste politisiert, sie musste sich zusammenreißen, neben all der Instrumentalisierung die Opfer und ihre Überlebenden nicht zu vergessen, ihrer zu gedenken. Menschlichkeit zu bewahren. Charlie war zu erwarten gewesen, Charlie wurde noch differenziert diskutiert, und spaltete noch die Linke, rechtspopulistische und pan-europäische Strömungen waren sich uneins in der genauen Ausarbeitung ihres anti-muslimischen Rassismus. Aber spätestens seit Paris, jenem Paris, das nicht Charlie war, war Diskussion im öffentlichen Raum unmöglich geworden, es war lediglich ein dominanter Diskurs übriggeblieben, dem das Fett fehlte. Köln brachte rechten Feminismus ans Licht und ins Spiel, orientalisierender Paternalismus oder einfach nur blanker Rassismus, gerechtfertigt über Frauenrechte, Menschenrechte, und sonstige Rechte. Sicher keine muslimischen Rechte, obwohl Teile deren Entwicklungen in Europa durchaus begrüßen mochten. Nein, es war ausgeschlossen, dass man zusammen an der Destruktion jeglicher Hoffnung auf Befreiung arbeite. Aber man konnte sich wengistens in die Hände spielen. Selbst Zynismus brachte ihr Verschwörungstheorien nicht nahe, sie hatte versucht zu verstehen. Ob ihr der Terrorismus in Europa Angst mache, war sie gefragt worden. Natürlich, hatte sie geantwortet, sie traute sich nicht Nachts allein auf die Straße, was stimmte, besonders nicht bunt gekleidet, obwohl sie damit den Verkehrsschutzpolizisten aus der dritten Klasse enttäuschte. Hättet ihr mal lieber Nazis eingesperrt, als uns Kindern Fotos von Fahrrädern zu zeigen. Mit wem sie sprach, wusste sie selbst nicht. Mit der Wut im Bauch. Jetzt war Brüssel. Ein Diskurs im Werden, und doch schon so klar: es wird einfach weitergehen wie bisher. Wie viele flammende Nächte, wie viele katastrophale wie erwartete Wahlen, wie viele Tote von Links musste es noch geben, bis sie aufwachte? Wer war sie, und warum sollte sie aufwachen? Sie wird zurückgehen in ein Bundesland, in dem sich eine Alternative 24% sichern konnte. Auch ihr Kreuz linksaußen auf der öffentlichen Toilette hatte daran nicht rütteln können, wie es auch ihre Schritte auf der Straße, ihre Rufe im Chor, ihr Schreiben nicht hatte ändern können. Was blieb, außer Zynismus? Sie hatte entschieden, es nicht länger zu ertragen, und tauschte Zynismus gegen Wut. Das war gefählich und ungesund, aber sie konnte sich nicht länger gefühlskalt geben. Brüssel machte Positionen klar: das christliche Europa, von dem selbst Grüne und Sozialdemokratie sprachen, stand gegen einen feindlich gesinnten Islam. Nicht irgendein Islam, sondern der im Herzen Europas, der so gut wie immer dagewesen war. Jetzt plötzlich sollte es anders werden, und man hatte anstatt systemischer Fehler eine Analysie des sich nicht integrierenden Geflüchtetenblock vor den Augen, der die europäische Nabelwelt in Angst und Schrecken versetzte. Wir haben es also mit einer weiteren und erneuten Kulturalisierung der Konflikte zu tun, immer mehr ging es nicht um Fundamentalismus als soziologisches Phänomen, und Nazismus als seine unschöne Weiße Spielart, sondern Religion, Kultur, Andersartigkeit auf der einen, und Gewalt und Feuerschein auf der anderen Seite, als salonfähige Alternative. Eine Frankfurter Soziologin: „Anstatt ethno-nationale Kulturen und Religionen als Trennlinien der Identität zu begreifen, sollten wir diese unbedingt als politisch eingebettete und historisch veränderliche Phänomene sehen.“


Etwas verband sie mit dem Istanbuler Flughafen. Hier lebte die Anonymität der Großstadt, so hochgepriesen. Bunt und unbekümmert hetzte er Tag für Nacht vor sich hin, ruhte und betete auf mitgebrachten Teppichen. Die Moschee war dazu kaum geeignet, es sei denn man fand in Käsefüßen reisender Männer spirituelle Entrückung. Ihr hatte der karge Raum nichts gesagt, aber sie war auch nicht zum Gebet hierhergekommen. Niemand war das. Ein seltsamer Ort, an dem keiner blieb und auch nicht bleiben wollte. Immer in Bewegung, auf dem Weg nach woanders. Vielleicht blieb das Personal, vielleicht auch nicht. Die Reisende erkannte niemals jemanden wieder, aber sie suchte auch nicht nach Gesichtern. Nicht mehr, seit sie nicht mehr zur Schule ging. Das Pärchen, das direkt vor ihr ungeschützt öffentlich Affektion zeigte, und sie an ihre eigenen Experimente erinnerte. Die Großmutter, auf ihren Nägeln kauend. Viele leere Augen auf Bildschirmen. Auch leere Augen in die Ferne, einfach irgendwo verlorengegangen. Sie brauchte nicht mehr nach Mitlernenden ihrer Schule Ausschau zu halten. Konnte die Tasche mit dem Schullogo einpacken. Sie wird niemanden treffen.


Ihr gegenüber sprachen zwei behemdete Herren Bangla. Und auf der magischen Rollbahn schlich Gandhi im Hotelhandtuch. Die Herren sprachen wieder in Bangla. Sie war unzufrieden mit ihrem Schreiben. Jemand sang seinem Messias ein Lied. Eisblaue Augen lasen einen Roman. Nicht ihren, um Himmels Willen. Einen, einen veröffentlichten, von einer echten Dichtenden geschrieben. Sie hörte auf zu schreiben, und schrieb doch weiter. Sie sah nach ihrem Gate, und nach ihrer nahen Zukunft auf dem Flughafen.

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