Ich war, wie geplant, früh aufgestanden, vom schrillen Alarm des morgenmuffelnden Bruders zuverlässig geweckt, und zum Bahnhof gegangen. In Fäden fiel der Regen seicht auf die grauen Dächer der Stadt, und bedeckte sie in einem Netz aus Glasperlenspiel. Die Hosen waren deshalb nasskalt und sträubten sich merklich dagegen, trockener und damit wärmer zu werden. Weiter fiel zweierlei auf: Erstens, und weniger wichtig, hatte ich den Plural von Hose wie im Englischen gebildet. Der Zeitpunkt war längst überschritten, meine Grammatik aufzufrischen. Zweitens hatte sich auf dem Bildschirm die erste Landschaftsbeschreibung formuliert seit ich wieder schrieb, von düsteren Beschreibungen Deutschlands in Flammen einmal abgesehen. Auf dem Bahnhofsweg dachte ich deshalb wieder daran. Deutschland in Flammen, das kennen wir. Und den historischen Hinweis, dass ein angenommenes ‚wir‘ ‚das‘ ‚kannte‘, war nur zu geläufig. Nicht nur die Sorte Menschen, die lieber einmal zuviel die Vergangenheit bedachten vor der Zukunft zu warnen, als Machtergreifenden das Bahngleis zu überlassen. Es war ein bequemer Diskurs, und er schien sicher. Deutschland steht also wieder in Flammen, nicht in irgendwelchen Flammen. Deutschland steht in den Flammen, die in einer Dessauer Polizeizelle Reste eines Feuerzeugs übersahen. Deutschland steht in den Flammen von Lichtenhagen, Solingen. Deutschland steht auch in den flammenden Hassreden Petris, Luckes. Deutschland, kleingeschrieben, steht in Flammen, Deutschland, großgeschrieben, steht auf montäglichen Transparenten. Deutschland, objektiv betrachtet, steht in Zahlen. Deutschland, emotional unbeachtet, fällt in Kackscheiße. Kackscheiße war das Frustwort der Freundin. Kackscheiße enthielt für sie alles schlechte, besonders passend fand sie daran oft die farbliche Übereinstimmung, die geteilte rutschige Konsistenz und dass man in beide fallen konnte, konkreter: Deutschland, kleingeschrieben, in beide fiel. Deutschland, großgeschrieben, stand in einer Blüte wie schon lange nicht mehr. Nicht mehr seit der Wiederenteignung, der deutschen Uneinigkeit, der befriedeten Revolution, oder wie Historiker die Ereignisse von 1990/91 sonst genannt hatten. Und davor seit der Wirtschaftsbewunderung, davor der Machtvergreifung, davor an der Sonne, davor erfunden von Dichtenden, denen es an Deutschland, kleingeschrieben lag. Ich musste mich auf dem Weg zum Bahnhof unweigerlich der Frage stellen, ob und was mir an Deutschland, kleingeschrieben, lag. „ich bin verwirrt. ich habe wirklich nicht gedacht, dass ich dies jemals wieder fühlen würde, diese sentimentale identifizierung mit einem ideologischen raum, der sich auf gras, steinen und fahnen manifestiert. da ist ein knoten in meiner zunge, und ich seufze wie viel besser es mir möglich wäre, diese zeilen in der sprache navid kermanis zu schreiben [dieser, deutschen, Sprache. Anmerkung der Übersetzung]. oder besser: wie viel besser es ihm möglich war, in seiner sprache auszudrücken, was in meinem kopf ist. / ich war überzeugt, dass ich nicht deutsch war. aus einer position von ideologiekritik, dachte ich, ich hätte auch diesen teil meiner persönlichen öffentlichkeit dekonstruiert. ich dachte, ich widersetzte mich allem nationalismus, und jetzt diese gefühlsregung. verwirrend ist nicht die emotion selbst; verwirrend ist wie und ob damit zu arbeiten. was genau es ist, das ich fühle, spielt womöglich eine kleinere rolle als was ich mit diesem gefühl tue. / in sprache hat navid kermani mich, die anarchistin, die anti-faschistin, die ideologiekritikerin, damit überrascht, dass ich deutsch bin. ich bin deutsch, ich bin europäisch, ich bin weltbürger. es war modern geworden, dies in einem satz zu sagen, aber was bedeutete es? gibt es irgendetwas abzutrennendes – und was nützt es, diese unterschiede zu betonen? ich weiß gut, warum die antwort auf diese fragen sein sollte: hör auf mit deinem faschistischen geheule, es gibt nichts deutsches. und das stimmt, diese nation ist ebenso schein, wie ihr stolz. / navid kermani, in seiner ruhigen Art, überzeugte mich beinahe, dass es tatsächlich okay war, stolz darauf zu sein, mich mit meinem reisepass zu identifizieren. in seinem wunderschönen deutsch überzeugte es mich fast, dass diese sprache es wert war zu lieben, dieses land es wert war zu leben. selbstverständlich irrational. navid kermani ist kein faschist. er kritisiert die logik des nationalismus und baut vorsichtig auf, warum es für ihn in genau diesem Augenblick gerechtfertigt sein mag, zu sagen: ‚danke, deutschland.‘ er spricht kein universal gültiges manifest für ein nationales wiedererwachen, noch beantwortet er die frage, ob und unter welchen umständen es erlaubt sein mag, sich mit der nation zu identifizieren und sie zu adressieren. er spricht in einem umstand, der ‚stolz‘ für ihn angemessen machen mag – aber selbst dann nicht ohne dies zu problematisieren und zu rechtfertigen, warum. / bin ich dann stolz, deutsch zu sein? bin ich gar deutsch? die antwort lautet bestimmt: nein. aber genau wie navid kermani seine tränen beschreibt, wenn er die szene von warschau sieht, gibt es augenblicke, in denen ich meine sätze rechtfertigen muss. augenblicke, in denen ich zu stark fühle um ein gegenwärtiges konstrukt zu vernachlässigen: wenn ich h. zur behörde begleite, wissend, dass mein leben so viel weniger bürokratisch ist wegen dieses winzigen willkürlichen papiers, das mich mit deutscher staatsbürgerschaft privilegiert. pegida-demonstrierende, neonazis und bischöfe gegen menschlichkeit marschieren zu sehen, treibt mir jedes mal tränen in die augen. deutsche literatur zu lesen: daniela seel, rafik schami, hermann hesse, berthold brecht, feridun zaimoglu, in augenblicken, die genauso unerwartet ankommen, wie sie mich wieder alleinlassen. vor einem holocaustdenkmal, einem soldatenfriedhof, kolonialer infrastruktur stehend, kann ich meinen ekel nicht erklären als mit emotionaler bindung, sozialisiert in historischem bewusstsein. die gefühle sind so verschieden wie die situation, jeder augenblick bedarf meiner erneuten rechtfertigung dessen, was ich gerade fühlte: wut, ekel, sorge, erstaunen. / oder ansonsten kann es nicht erklärt werden als hiermit: meinem postmodernen sprech zum trotz habe ich mich nicht von nationalismus befreit. ich fühle, auch wenn selektiv, mehr wut auf dresdens neonazis als auf alle anderen faschistischen bewegungen, mehr bewunderung als in der lektüre jeglicher anderer literatur, mehr ekel für diese geschichte des militarismus, faschismus und nationalismus als in jedem anderen schulbuch; es kümmert mich mehr. ich kann dies nicht anders erklären als so: ich bin, selektiv, temporär, problematisch und dann immer in bedarf einer rechtfertigung, manchmal deutsch.“ Seltsam, das Übersetzen. Auf deutsch wäre ich weit weniger direkt gewesen, hätte weit weniger Nationalismus zugegeben, und weit mehr Autonomie gefordert. Als meine Stiefel die erste Landschaftsbeschreibung abschritten, dachte ich über die Übersetzung meiner ersten modernhebräischen Kurzgeschichte nach. Was das Deutsche und das Hebräische so besonders machte, waren zwei Gegensätze, die das Übersetzen zu einer ständigen Herausforderung wachsen ließen. Hebräisch erlaubt, aus einer Verbwurzel eine nur durch die Vorstellung beschränkte Anzahl an Ableitungen zu bilden. Diese Eigenschaft schuf, oder schaffte, ich hatte es vergessen, nicht nur ein Meer an alten Wortneuschöpfungen, ungewohnt für die Lesendenschaft, aber gleichzeitig alt wie die Bibel, sondern auch sprachliche und inhaltliche Verknüpfungen zwischen ähnlichen Wörtern, deren Wurzel sich notwendig zu wiederholen hatte. Dazu das biblische Alter, die hebraisierten Modernbegriffe, die ständige Gratwanderung zwischen Einkaufszettel und Jesaia. Das Deutsche dagegen machte es möglich, seitenlang über ein eng umrissenes Thema, die Entwicklung des Laichverhaltens der Moorfrösche in Niedersachsen von 1950 bis 1975 beispielsweise, ohne jedoch weder die Protagonisten, als die Moorfrösche in diesem Falle, noch ihre Aktivitäten, des Laichens und Verbundenens, doppelt zu nennen oder auch nur anklingen zu lassen. Die deutsche Sprache verfügte über ein unnütz vervielfachtes Vokabular, wie beinah jede Sprache literarischer Produktion über mehrere Jahrhunderte, das, und hierin besonders, aktiv war in den Fingerspitzen der Schreibenden und den Ohren der Lesenden, und paradoxerweise bewunderte sie es für diese gegensätzliche Eigenschaft. Die Unterschiede zwischen beiden Sprachen schlossen eine Übersetzung quasi aus. Denn obwohl auch das Deutsche durchaus zur Neuschaffung geeignet war, klang das etwa so, als hätte man verzweifelt versucht, Wüste und Leere zu reimen, nur weil sie inhaltlich eng beieinander lagen. Die Sprachneubildung war weniger aktiv, die Benutzung alter Vokabeln Franz Rosenzweigs und Martin Bubers Schrift stieß genau auf dieses Problem, jenes einer hoffnungslos verstorbenen Wortneubildungstradition, das eine literarische Übersetzung, die also neben Genauigkeit auch Klanghaftigkeit im Blick behielt, jeglicher Bedeutung beraubte. Die Schrift konnte nur lesen, wer sich in Luthers Bibel auskannte. Also die Schreibende nicht. Für sie klangen Syntax und Vokabular so alt, dass sie beinah rein onomatopöische Interjektionen bildeten, die sich zwar im Text reimten und arbeiteten, aber sonst rostig quietschende Metaphern blieben. „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.“ Und konnte ich heute Hebräisch übersetzen als gesprochene, oder zumindest vorgetragene Tradition, und so, dass verstanden wurde? Ob so, wie vor 3000 Jahren, als man sie niederschrieb, bleibt auszuschließen mangels besserer Beweislage, aber dennoch überhaupt. „Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer. Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.“ Genau genommen war das eine Überarbeitung Luthers, die den Präferenzen der Schreibenden folgte. Den berühmten Genesisauftakt in den Ohren stellte ich mich unwillkürlich in Traditionen.
Januar 2016
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