Wolfgang Thierse wird sich daran gewöhnen müssen, dass nicht mehr die "negative Selbstwahrnehmung" der Ostdeutschen als Erklärung für die wirtschaftliche und soziale Situation herhalten kann. Sondern auch mit struktureller Ausbeutung aus der anderen Himmelsrichtung. Die Lösung kann nicht sein, jetzt mehr Selbstbewusstsein für einen zweiten Wendeenthusiasmus zu erlauben. Aufklärung, Zuhören, tatsächliche Initiativen zur Sichtbarkeit ostdeutscher Themen und Repräsentation ostdeutscher Interessen, ... können mögliche Vorschläge sein. Wen soll es berühren, unserer emotionalen Verfassung selbst die Schuld an allen Problemen bei uns zu geben? Das Selbstbewusstsein, das ich mir herausnehme, ist weit unbequemer ...
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Lieber Herr Thierse,
vieles von dem, was Sie sagen, wühlt mich ganz schön auf. Ich kenne viele in meiner Generation, also der Nachwendegeborenen, die das triumphalistische Wende-Narrativ nicht mehr mitmachen, die die sprachlosen Schreie der Ostdeutschen ernstnehmen, die Aufarbeitung fordern. Ich bin nach der Wende geboren, meine Eltern haben zonen-verbindend geheiratet. Auf Kindern wie der meiner Eltern lastet die Erwartung, die Wende zu besiegeln und die DDR endlich als Geschichte zu überwinden. Diese Erwartung, Ost und West in meiner Biografie zu verschmelzen trage ich nicht länger mit. Ich bin nicht länger bereit, den Sieg eines Systems zu verkörpern, die schmerzhaften Brüche der Nachwendezeit zu kitten.
Wir sind eine Generation, die scheinbar nichts mehr mit der DDR-Zeit zu tun hatte, und doch ist unsere Erfahrung eine ostdeutsche. Junge, kritische Menschen sind nicht länger bereit, die Wende als demokratischen Sieg über den Sozialismus zu lesen, der die Vorzüge eines parlamentarischen Neoliberalismus ein für alle Mal besiegeln sollte. In einigen ostdeutschen Städten entstehen Bewegungen, die sich gegen diese Vereinnahmung zur Wehr setzen. Die sagen: Wir müssen unseren Eltern zuhören. Wir können ihren Schmerz aussprechen. Wir wollen Aufarbeitung zulassen, ohne schon gleich zu wissen, was alles Unrecht und Diktatur war. Es ist eine tiefe Demütigung, wenn vom autoritären Charakter der Ostdeutschen gesprochen wird, die Demokratie erst noch lernen müssten. Wir wollen dem Unrecht der Nachwendezeit begegnen. Wir wollen verstehen, was alles hätte anders sein können. Das ist auch ein Kampf um die Sichtbarkeit von Perspektiven und Biografien, die nur in den Tagesschau-Berichten über Pegida und AfD als Inszenierungen ostdeutschen Un-Anstands in öffentliche Erscheinung treten. Wir wollen die Forderung nach Aufarbeitung, die verletzten Schreie nicht Rassist_innen überlassen. Wir wollen die Aufarbeitung nicht unseren Kindern überlassen.
Denn die Verletzungen der Nachwendezeit hat längst auch die nächste Generation verinnerlicht, von den Verletzungen der DDR und Nationalsozialismus, Krieg und Flucht ganz zu schweigen. Traumatische, weitgehend kollektiv erfahrene Verletzungen müssen gesamtgesellschaftlich aufge-arbeitet werden. Sich diesem Phänomen zu versperren, Herr Thierse, können wir uns nicht länger leisten. Darüber zu sprechen ist weder Wessi-bashing noch Jammer-Ossi-tum, sondern dringende Notwendigkeit. Daran, wie gut West- und Ostdeutsche aller Generationen im öffentlichen Ge-spräch miteinander und in ihren Familien diese Erfahrungen auf Augenhöhe besprechen können, wird sich die Demokratiefrage entscheiden. Wir haben heute die historische Chance, Aufarbeitung von beiden Seiten, in alle Richtungen zu wagen, jenseits von Tätern und Opfern. Und doch gibt es ein Machtgefälle von West nach Ost, das nicht erst in Löhnen in Erscheinung tritt. Westdeutsche haben in den letzten Jahren viel über Ostdeutschland geredet, geschimpft, analysiert. Es ist an der Zeit, dass Westdeutsche zuhören und ostdeutsche Perspektiven zu Wort kommen lassen. Auch darum bin ich diesem Gespräch dankbar.
Eine Gesellschaft, die von sozialer Un-Gerechtigkeit geprägt ist, in deren Wahlkampf kaum über wirkliche Probleme von Gesundheitsversorgung, Altersarmut, Vereinzelung, ländlicher Infra-struktur, Obdachlosigkeit, Wohnungsmarkt, Nachhaltigkeit etc. diskutiert wurde, braucht ehrliche Diskussion über Alternativen, statt einem: da ist eben noch viel zu tun. Für sozialpolitisches Versagen in Ostdeutschland kann nicht mehr die Wende Entschuldigung sein. Wenn die AfD auch weiterhin keine Landtagsregierung im Osten stellen soll, müssen wir eine Öffentlichkeit für den Osten schaffen, statt seine Perspektiven und Erfahrungen als Jammern und autoritär verhaftet zu verunglimpfen. Dieser Paternalismus gefährdet die Demokratie mehr, als die AfD das jemals allein über rassistische Themen geschafft hätte.
Es steht viel auf dem Spiel und ich hoffe inständig, dass wir es schaffen, von unseren hohen Rössern herunterzukommen und aufeinander zuzugehen. Es besser zu wissen schafft polarisierte Situationen, wie wir sie jetzt im Osten haben. Das gilt auch für assimilationsenthusiastische Ostdeutsche, das gilt auch für linke Anti-Rassist_innen.
Im Träumen mit den Alternativen zur Wende, in der Hoffnung auf Aufarbeitung, den nächsten Generationen zuliebe,
Ihre alma* Roggenbuck
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