Tolstoi schreibt über ihre Liebe, dass sie in allem richtig sei, nur nicht in der Annahme, dass sie durch eine violente Revolution herbeigeführt werde. In einem platonischen Dialog führt er die schärfsten Punkte an, in welchen sich ihre Jugendliebe und ihre permanente Liebe unterschieden, indem er sie argumentieren lässt. Er verstößt die Frage, wie ein Staat nach der Revolution ohne Regierung und Administration zu arrangieren sei: Er nicht, und niemand sonst, könne wissen oder beurteilen, was geschehen werde oder wie dies am besten zu gestalten sei. In all dem jedoch bleibt für Tolstoi die Frage nach dem ethischen unmittelbaren Handeln: „Soll ich mein Gewissen jenen Handlungen um mich herum unterwerfen, soll ich mich selbst in Übereinstimmung mit der Regierung ausrichen, welche irrende Menschen hängt, Soldaten schickt um zu morden, Nationen mit Opium und Spirituosen demoralisiert, und so weiter, oder soll ich meien Handlungen dem Gewissen unterordnen, also nicht an der Regierung teilnehmen, deren Handlungen im Gegensatz zur Vernunft stehen?“ Dennoch bleibt fraglich, weshalb Tolstoi über die Liebe spricht. Zu zeigen, wie die einzige permanente Revolution stets nur die innere sein kann? Insbesondere die Verbindung zu Christi Lehre scheint fraglich, ist nicht so glanzvoll gelungen, wie von Tolstoi erwartet. Und die Übersetzung war zu trocken, einen etwaigen ironischen Unterton herauszuschmecken, dennoch erschien ihr dies als einzig gangbarer Weg: Tolstoi war zynisch geworden. Wie sonst war es zu erklären, dass Tolstoi die These einer unausweichlich hellen Zukunft aus seinem eigenen ethischen Handeln ableitete, nur um dann die beiden Wege des Terrorismus und des Verhandelns als nicht mehr gangbar zu deklarieren. Das war Satire, das war Sarkasmus, bis zum nächsten Absatz. Dort wendete sich das Blatt zu holzschnittartigem Zynismus, wenn Tolstoi fragt: „Beide diese Probleme [des Terrorismus und der Verhandlung] fest verschlossen, was bleibt zu tun?“ Tolstois Antwort ist nur die seines eigenen Handelns, welches allein nötig und erfolgreich sein werde, und auch der Wille Gottes sei. Vielleicht meinte es Tolstoi vor mehr als einem Jahrhundert doch ernst, wen interessierte das schon? Sicherlich nicht die Leserin, sie wunderte sich nur darüber, dass sie neulich selbst Marx‘ ernsthafteste Schriften zynisch aufgefasst hatte, was hinter alledem nur ihren eigenen, pandemisch fortgeschrittenen Zynismus aufzeigte. So wollte sie Tolstois letzten Satz nicht verlachen, sondern voll des Staunens betrachten: „Wie wird die Revolution stattfinden? Niemand weiß, wie sie in der Menschheit stattfinden wird, aber jedermann fühlt sie klar in sich selbst. Und dennoch denkt in unserer Welt jedermann darüber nach, die Menschheit zu verändern, und niemand darüber, sich selbst zu verändern. / Lew Tolstoi / 1900“. Es lebe ihre Liebe, in der Menschheit und in ihr selbst.
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