Erst noch muss sie es schaffen, diesen Drogeriemarkt zu betreten. Betreten, das war noch einfach, einmal nach links, Seitenblick nach rechts. dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig, ich komme. Vor mir hinter mir über mir, ab. Es half nichts, sie musste rein. Sie hatte es sich versprochen, war schon den vierten Tag umgekehrt. Heute wird sie es tun, nein, nicht nach den Schließzeiten schielen. Entschlossen wäre übertrieben, zögernd zu authentisch, nun ja, sie trat ein. Aber das war nicht das schlimmste, die Bio-Brotaufstriche und die Regale mit dem Buchweizenmehl waren noch einfach, extra weißer Rasierschaum, Klingen, Beile. Dort sollte sie eigentlich zuhause sein. Sie drehte Runden, aber bog immer vor der Kosmetikabteilung ab. Schwarz, braun, blau, schattiert, mattiert, radiert, glitzernd, glänzend, strahlend, gelig, farbig, madig. Sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte oder wollte, stand verloren herum. Sie war noch nie vor diesem Regal gestanden, hatte soziale Kategorien gut genug internalisiert, um nicht neugierig hinüberzuschauen, in die Abteilung des Ladens, von der sie eine gläserne Wand trennte. Vielleicht sogar eine steinerne, denn gesehen hatte sie all dies nie; sie wusste wohl um die Existenz von Mascara und Liedschatten, hatte aber keinen Schimmer, wie so etwas zu kaufen war. So verloren flüchtete sie aus der Abteilung, aus dem Laden, nur raus, auch die Sicherheit hielt sie nicht auf. Vorbei an der Kasse, raus auf die Straße. Nein, sie hatte keiner gesehen. Sie erwog zurückzugehen, und erst Recherchen zu betreiben. Aber das hatte sie schon, hatte sich auf ungezählten kommerzialiserten Seiten informiert, die neben operativen Eingriffen auch Make-Up-Kits, Brustpräparate (zum Vergrößern einer existierenden, oder erst Schaffung), Behandlungen zum Entfernen von Gesichtshaar empfahlen oder gleich verkauften, dazu Online-Kurse und ganze Blogs zum femininen Auftritt und den zehn häufigsten Fehlern. Es hatte sie schon missmutig gestimmt, wie anpassungsfähig sich der Kapitalismus zeigte, und keineswegs in bürgerlichen Geschlechtskategorien gefangen blieb, wenngleich sich das Prinzip nicht wandelte: Subjekte zu Objekten, Objekte zu Ware. Sie konnte sich ihr wahres Selbst kaufen, als Paket, all-inclusive, oder in Farbe. Sich alternative auch selbst verkaufen, oder verkaufen lassen. Warum tat sie all dies? Wieder zurück, sie musste wieder zurück. Musste, warum musste? Wehrte sie sich nicht gegen Kategorien und Zwänge im Allgemeinen, und eine Identifikation ihrer Selbst mit einer Geschlechtskategorie, und sei es einer transgenderen? Zurück, wieder Runde um Runde, Buchweizen, Rasierschaum, und wieder vorbei am Liedschatten. Sie vermochte die Schwelle nicht zu übertreten, es hatte fast etwas Rituelles, dieser Bruch mit dem Dogma ihrer Kindheit, dass sie es zu unterlassen hatte, Röcke zu tragen, Ballett zu tanzen, und eben in jene Abteilung auch nur zu schauen. Sie nahm allen Mut zusammen, belustigt, wie schwierig es für sie schien, und bat die Regale Einsortierende um Hilfe. Die Regale Einsortierende war erschrocken, aber zeigte sich kooperativ. Die Fragende hatte keine Ahnung gehabt, wie sie reagieren würde. Professionell, natürlich, da war nichts von Urteil. Vielleicht auch tiefer als professionell, vielleicht war es für sie tatsächlich ganz normal. Jemand fragte sie nach Make-Up, vielleicht etwas ungewöhnlich, schließlich war sie schon fast 20. Aber das war’s. Sie wolle anfangen, sich zu schminken, die Auswahl sei aber so groß, dass sie nicht wisse, wo anfangen. Sie sei raus aus dem Thema, entschuldigte sich die Regale Einsortierende, aber nahm sie mit zur Mitarbeitende, ebenfalls Regale einsortierend. Die Fragende bedankte sich und wiederholte mit Herzklopfen, jetzt schon ruhiger die Frage. Und erwartete die Antwort, jetzt schon ruhiger. Sie wolle anfangen, sich zu schminken, die Auswahl sei aber so groß, dass sie nicht wisse, wo anfangen. Kein Problem, alles trivial. Warum machte sie so ein Spiel daraus? Wo sie anfangen wolle, will die Antwortende wissen. Augen und Mund, versuchte die Fragende ihre Unwissenheit und Unsicherheit scherzend zu überspielen. Der Versuch misslang, aber die Antwortende hatte verstanden, und führte sie über die Schwelle. Das lange Regal sah von Nahem betrachtet noch überwältigender aus, ein Glück war sie nicht allein gekommen. Die Beratende zeigte sich geduldig und nahm ihr alle Entscheidungen ab, die Suchende war dankbar, jetzt schon ruhiger. Keine Minute, und sie hatte Eyeliner, Mascara und Lippenstift in der Hand, was sie unter dezent verstand, jetzt schon ruhiger. Nun zur Kasse, 7,75. 10 hin und Rückgeld. Kassenbon, auch so, haben sie schon ausgedruckt, nein, keine Payback-Karte, auf Wiedersehen. In die Tasche, schnell, schnell, und umgeschaut, aber jetzt schon ruhiger. Nein, sie hatte keiner gesehen, sie war allein geblieben. Sie hatte es geschafft, um Hilfe gefragt, und das Erfragte erhalten. Sie trat auf die Bürgersteig, rannte fast in die Straßenbahn, und strahlte der Sonne entgegen, die jeden Tag länger und immer noch am Himmel stand, wenngleich hinter dem Roten Turm versteckt.
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