EPITAPH bin ich nicht eine frau? – fragte
vor einem vierteljahrtausend
eine frau – und löste die knöpfe ihrer bluse
I
bin ich eine frau, auch ohne die knöpfe, ohne die bluse
frage ich mein spiegelbild,
und es lächelt mich an
und irgendwo weiß ich,
dass es lügt
II
wir müssen stark sein, weil frauen stark sind
aber ich habe keinen rücken
leere säcke zu schleppen
und wenn ich meine bluse aufknöpfe,
ist da keine brust
die ich dir zeigen kann
dann bin da
nur ich
vorm spiegel schneide ich mich
beim rasieren
schneide ich mich wie
abends in die unterarme
jedes mal tiefer
weil es
jedes mal weniger hilft
und dann muss ich stark sein, weil frauen
stark sind
aber ich hab keine
brust dir zu zeigen
und keinen rücken
dich zu tragen
ich hab nur tränen und schnitte und
schmerz
will meinen körper verletzen
und laufe und laufe
bis ich den schmerz in mir drinnen
auch draußen spüre
und ich schreie
bis sich die nachbarn beschwer’n
und ich schreie
dass es mir scheißegal ist
welche musik ihr hört
und dass es mir scheiße geht
III
die welt kann es nicht wissen
weil es stumm ist auf meinem gesicht
dass in mir ein kampf tobt kann ich
nicht immer spüren
nur dass ich müde bin
vom suchen
vom fragen
und dass es doch keine notbremse gibt,
die ich
einfach so ziehen kann
weil es hier um mich geht
weil ich eine frau bin
und weil ich stark bin
ich bin stark und eine frau
und irgendwie auch nicht
und machmal, wenn’s mir besser geht,
dann tanz‘ ich richtung mondlicht
aber meistens
höre ich nicht
spüre ich nicht
wird der schmerz ein teil von mir
und er wird so stark
dass er mich nicht wahrnehmen kann
und ich nicht ihn
dass meine finger taub werden
im erschrecken vor meiner eigenen kälte
und ich schiebe meinen schal weiter hoch
damit meine tränen
einen kürzeren weg haben
und dass man meinen mund nicht sieht
aber die kälte in mir drin, die bleibt
ich steh‘ vor einem abgrund,
frag mich, springe ich,
ich bin stark und eine frau
ich kämpfe und fall um
ich falle und falle
in richtung licht
doch das gibt es nicht
es gibt nur boden und moos und laub
und dunkelheit und schmerz
den fühlst du auch
denn dem, den es nicht gibt sei dank
brauche ich meinen schmerz
nicht mit mir selber rumzutragen
kann ich ihn bei dir vor die tür stellen
und du kommst dann zu mir
hörst mir zu und sprichst mir mut
sagst mir ein wort, das so gut tut
und dann gehst du wieder
und ich bin wieder allein
und ich lauf dir hinterher
und der schmerz ist wieder da
aber du nicht mehr
und ich bin allein
und ich kann nicht mehr
und jeden tag steh‘ ich
irgendwie wieder auf und
fall ich
irgendwie wieder hin
und heule und schreie und schreibe
und fühle nichts mehr
hab meine tränen vergossen
und mein herz ausgetrocknet
versteck‘ mich selber vor mir selbst
sperr‘ alles weg, womit ich mich schneiden kann, weil ich mir selbst nicht trau‘
und wieder ein morgen und
wieder ein spiegel und
blicke in der straßenbahn
manchmal mehr
worte sind drohungen
und taten gewalt
erklärt mir meine freundin
die es auch nicht kapiert
warum nur muss ich so allein sein
wie nur kann ich so viel schmerz tragen
und ich will nur eine kleine pause
danach kann es weitergeh’n,
das ist mir egal
aber jetzt kann ich nicht weiter
und zurück und ich bin mir egal
und sowieso
kann ich euch egal sein
und spielt es keine rolle
dass es mich sowieso nicht gibt
oder doch
und es macht keinen unterschied
ich will vorbei sein, will klein sein
will wachsen und verzeih’n
will meine eig’nen wunden lecken
und sehen wie es heilt
manchmal ist da ein abgrund,
voll moos und feuchtem laub
und dunkelheit, dass sich keiner traut
manchmal
ist da
ein kleiner tropfen licht
und ich hab das gefühl
dass alles gut wird
irgendwann
und lächle mich an
und lächle über mich selbst
wie dumm ich bin
aber ich geb‘ nicht auf,
geb‘ mich selbst nicht auf
und ich lauf und ich lauf und lauf
bis es weh tut und ich falle
auf weiches feuchtes moos
im dunkeln irgendwo
der, den es nicht gibt, hat uns
von innen her gemacht,
sagt meine kleine schwester,
und deshalb können wir nicht rein
und kann nichts aus uns raus
und sie schaut mir in die augen
ernst in mein gesicht
ich schlucke und ich schließe
die augen zu
und sie sagt nichts
hält mich nur fest
und ich weine, weil ich weiß
dass sich schmerz nicht teilen lässt
weil wir aus schmerz gemacht sind
und man atome
nicht weiter teilen kann
und ich weiß, dass sie aus den gleichen
atomen gemacht ist
und ich bin nicht allein
und ich atme
durch den schleier hindurch
den salzteppich
den meine tränen auf den wangen
hinterlassen
wie schneckenspuren
im mondlicht
und da ist ein lichttropfen
und die hand meiner schwester
ich greife nach beiden
und fasse nur die hand
bis sie mich angrinst und mir zeigt
wie man mondlichttropfen fängt
kleine schwester, sei mein lehrer
zeige mir die welt
lehr mich sprechen, lehr mich fühlen
lehr mich halten
was auch dich zusammenhält
lehr mich dichten lehr mich flicken
lehr mich bunte socken stricken
lehr mich fühlen, lehr mich halten,
lehr mich meinen schmerz behalten
zeig mir wie man füchse fängt
wie man torten baut aus sand
warum man knochen an feden hängt
und dann gib mir deine hand
kleine schwester, lehr mich fliegen,
gib mir flügel und den mut
zu springen und zu fallen
und zu laufen
bis ich meinen schmerz spür‘
und ich weiß nicht, was dann
aber ich trau dir, vertrau dir
dass du mit mir gehst
dass du meine hand hältst
und mich im kreise drehst
und meine bluse wieder zuknöpfst
und mir sagst: jetzt nicht
jetzt ist nicht
die zeit zu weinen und zu fragen
jetzt ist die zeit
das holz zum feuer tragen
und den berg zum propheten
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