Es war kalt in Jerusalem, viel kälter als noch am Meer, und der Weg war durch Hügelketten vernebelt gewesen. Jerusalem fühlte sich ungewohnt an, aus Tel Aviv kommend, steifer, unauthentischer. Nicht Jerusalem, sondern die Schreibende in Jerusalem. In Tel Aviv dachte sie nicht viel darüber nach, wie sie sich auf der Straße bewegte, im Gegenteil, sie experimentierte gar. Jerusalem um sie war daran nicht zu denken. Zu bewusst war sie sich ihrer Wirkung auf die offen Religiösen, nach außen erkennbar und öffentlichkeitswirksam, auf die Soldaten, in Zivil oder außerhalb, aber immer bewaffnet, die Verkaufenden in den Läden mit der sexistischen Reklame, die für protektive Männlichkeit wirkt, aber Schuhe verkauft. Das Schlimmste war die Lüge. Nicht dass sie ihre Performanz veränderte, nein, das tat sie auch in anderen Kontexten. Aber dass sie ihre unmittelbaren Reaktionen zu verstecken hatte, das war ungewohnt, obwohl nicht neu, und trotz allem Scheiße. Ein Kaffee, WC am Ende des Ganges, und mit 2-Schekel-Stücken unbetretbar. Sie musste wechseln, der Schlitz war zu klein. Alle beide. 8 Schekel nur der Bus nach Hebron. Kein Schnäppchen, sondern subsidiert, aus Steuergeld, zu freundlichen Unterstützung von Siedlungen. Und schon war sie mittendrin in politischer Materie, konnte sich nicht mehr am Kaffeebecher festhalten, verlor den Halt woran auch immer, und fiel mitten in eine eigentümliche Welt, die es nicht geben durfte. Wenig unterschied Kiryat Arba von den Straßen Tel Avivs, mehr Kopftücher, ähnlichere Häuser. Aber doch, als wäre es eine israelische Stadt, nicht das, was der Begriff Siedlung fälschlicherweise an Assoziationen mitträgt. Hinter dem Checkpoint fängt eine andere Welt an, fängt die arabische Welt an, noch eine. Weniger Kopftücher, keine Kippot, wenig das sie noch an Israel erinnerte, außer dem Davidstern als Graffitti an der Wand des Kindergartens. Ein Blick zurück veriet ihr wieder, wo sie war: Auf der Hauptstraße Hebrons, einst schön, einst Stadt, einst friedlich, bis 1928 Jüd*innen in einem Massaker vertrieben wurden, bis 1967 die Stadt wieder befreit wurde, wie Wandmalereien verrieten. Das ekelhafteste Geschwür von Nationalgeschichte, das ihr untergekommen war, aber selbst das überraschte sie nicht mehr. Seltsame Orte brauchten Narrativen ihr Bestehen rechtzufertigen und ihre Absurdität zu normalisieren. Das dort war kein Theater; lediglich Wahrheit, Wirklichkeit, und Tod. Die Trennfrage der deutschen Linken, ob Israel ein Recht zu existieren habe, entscheidet sich als weder zentral noch analysewirksam überhaupt. Menschen leben, und Ahmad hat Recht, dass es kein Leben sei, wenn man sein eigenes Land nicht betreten darf und ständig fürchten muss, auf hebräisch, und selbst Yisrael Hayom hat in diesem einzigen Punkt Recht, dass es kein Leben sei, wenn sein eigenes Land im Krieg sei und man ständig fürchten muss. Sie bemühte sich schon lange nicht mehr um Neutralität. Es gab komplexe Situationen, und es gab Menschlichkeit. Tausende Geflüchtete an den griechischen Grenzen, an dichten Grenzen. 24% für die neurecht-populistische Partei, die der großen Christdemokratin die Stimmen abwandert. O Deutschland, wohin gehst du? Wo sie sich daheim fühle, sie lachte. Mehr in Tel Aviv als in Halle, als an der Müritz, als in Baden. Ja, das sei sicher. Aber die irrationale Sorge blieb.
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