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der letzte täter

Tief lag die Erinnerung, schwer wog das Vergessen. Gebückt, die Augen starr auf dem Parkett des Gerichts, blickt kaum auf. Artikel und Videos zeichnen das Bild eines alten Mannes, kaum ein Stück Schrift kommt ohne einen Bezug auf das Alter aus. Als entschuldige es sein Vergessen, dass er sich nur langsam erinnerte und sich nicht schuldig zu fühlen schien, sondern zufrieden sei, nach eigenen Angaben, so leise, dass der Anwalt die Worte wiederholen musste. Der Name des Angeklagten schon wieder vergessen. Vielleicht war er der Angeklagte, und vielleicht der Angeklagte im letzten Auschwitz-Prozess. Vielleicht erinnerte er sich tatsächlich nicht, vielleicht klingt seine Entschuldigung deshalb so unbefriedigend. Auch nicht, nachdem er sein Martyrium vortragen ließ, wie einsam er sich in der Waffen-SS gefühlt hatte, nicht mehr an der Front, wie er Menschen geholfen hatte. Ein Relikt, ein archäologischer Fund, der nichts darüber erzählte, wie er sich nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1948 fühlte, ob er beim Abwaschen verdrängte, ob er zusammenzuckte, wenn man über Auschwitz sprach. „Ich bereue zutiefst, dass ich einer verbrecherischen Organisation angehört habe. Ich schäme mich dafür, dass ich das Unrecht habe geschehen lassen. Ich entschuldige mich in aller Form.“ Kein Eingeständnis, nichts von Mord. Man erwartete das, den Bezeugenden schien es wichtig. Der allerletzte Auschwitz-Prozess stand aber noch bevor, und wer wusste schon, ob es dann vorbei war, wenn Deutschland auf der Anklagebank saß, und sich Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Menschenverachtung durch ihre Auflösung entschuldigen mussten, Buße tun. Auschwitz war nicht zu begreifen, war nicht zu ent-schuldigen. Auch nicht durch Reue, losgelöst vom Erinnern, auch nicht durch Gedenken, losgelöst vom Politischen. Der Angeklagte war Denkmal, stand symbolisch ein, für all das Versagen des kollektiven Erinnerns. Seine Entschuldigung lud genausosehr die Schuld auf die Schultern der Bundesrepublik, wie die goldenen Stolpersteine der ermordeten Familie, über die jede Woche wieder Springerstiefel trampelten.


Das Ende des letzten Täters ist nicht das Ende der Täterschaft.

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