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der vater

Der Vater war sauer. Sprach im Zimmer nebenan mit sich selbst, fluchte, gerade laut genug, dass sie seine Worte nicht nur hörte, sondern verstehen konnte. Verfluchen tat er sie nicht, aber fluchte über sie. Und alles begann wieder, ging von vorne los. Sie drehte sich, drehte sich im Kreis, und drehte sich ein. Sie verstrickte sich in den behutsam errichteten Fallen ihres Köpfchens. Sie wollte nicht mehr, aber es ging nicht anders. Wieder war es der Vater, der große Schatten über ihrem verpflanzten Verlangen nach Sonnenschein. Die Sache war es dem Vater wert gewesen, noch einmal persönlich zu ihr herüberzukommen, und mit großen Schnitten vom Strauch ihres Selbstbewusstsein kein Blättchen übrig zulassen. So zerrupft war sie sich selbst zuviel. Weglaufen war keine Alternative mehr, das hatte sie oft genug getan. Oft genug hatten es die Eltern nicht gemerkt, war sie im Morgengrauen zurückgekehrt und unter ihre Bettdecke geschlüpft. Die Nacht war auch heute wieder ihre. Selbst wenn der Vater die Tür ins Schloss fallen hören würde, er würde ihr nicht nachgehen. Und wenn, was sollte es nützen? Ihrer Flucht hatte sie selbst zu begegnen. Sie war auch sauer, tief drinnen. Gut, sie war nicht sauer. Sie hatte solche Gefühle nie verstanden, wie sie unwiderbringbar aus dem Vater von Zeit zu Zeit hervorbrachen, kannte nicht Wut, nicht Schmerz, noch Zorn. Natürlich war sie verletzt worden, er hatte sie verletzt, zu oft vielleicht um jemals zu heilen. Der Vater, der sie heute verletzte war längst nicht mehr der, der tatsächlich im Türrahmen stand. Der Vater mit dem Beil, das war sein Urtyp, etwas das außerhalb seiner selbst und seiner Kontrolle stand. Der Vater konnte ihr also nicht helfen, selbst wenn er ihr nachginge. Was sein Stolz ohnehin nicht zuließe. Der Vater, der sie daran hinderte zu sein, war einer, den sie in sich selbst zu besiegen hatte. Er verkörperte ihre Ängste, ihre Abläufe und Muster, weil seine Vergangenheit sie einst geschaffen hatten. Sie hatte ihrem Vater viel von dem zu verdanken, was sie heute belastete. Sie war als Kind so anders gewesen, vielleicht auch anders, als der Vater es sich gewünscht hatte. Ein Kind spürt das, und reagiert darauf. Sie war nie wie alle anderen geworden, und anders als erhofft hatten ihr die zwei Jahre am Internat in Indien nicht Befreiung sondern lediglich gehetzte Flucht verschafft. Sie konnte es sich einrichten, mit einem Koffer, zwei Büchern und den Sachen am Leib, aber irgendwann wird sie es satt sein. Irgendwann wird sie wie der Vater jetzt daliegen und fluchen, wird sie Nächte wach verbringen, nicht wegen eines Hustens, sondern aus Angst vor den Träumen. Sie wird nicht einschlafen können, wird nach ihrem Vater rufen, und er wird nicht kommen. Sie wird nach Gott rufen, verzweifelt, und die Himmel werden eisern schweigen. Sie wird Gott und ihren Vater verleugnen, dann verfluchen. Schließlich wird sie eine Befreundete anrufen, oder die Telefonseelsorge, oder den Gebrauchtwagenan- und –verkauf, irgendwen, und stundenlang weinen, nur um nicht allein sein zu müssen. Dann erst wird sie nach Hause zurückkehren können, ins Haus ihrer Eltern, um zu verstehen, was damals geschah. Und was jetzt nicht geschah. Eine Ahnung überkam sie, dass sie ahnte, aber noch zu jung war, tatsächlich zu verstehen. Es war wie ein Spiel, und jemand ließ sie die Karten schauen. Aber es wäre zu einfach, könnte sie gleich damit gewinnen. Wann endlich?, fragte sie jetzt, aber ihre Kämpfe waren so ausdrücklich nicht einmal drei Jahre alt. Es hatte begonnen, als sie plante auszuziehen, als sie das Stipendium erhielt. Irgendetwas war damals zu Bruch gegangen. Sie konnte das nicht flicken, wollte das auch nicht. Sie hatte Mitleid mit dem Vater, der für all dies nichts konnte, und auch nicht eigentliches Ziel ihrer Verzweiflung war. Es ging längst um etwas anderes, und dennoch war da der Vater als Mensch, mit all seinen Bedürfnissen.


Sie wird nicht die ganze Nacht schreiben können, sie hatte jetzt schon Kopfschmerzen und trübe Augen. Eine irrationale Kraft trieb sie dennoch dazu, nicht aufzuhören, und bis zum Morgengrauen weiterzumachen. Zu wachen, und zu schreiben. Der Vater war ruhig, hoffentlich eingeschlafen. Der Vater hustete, noch wach. Es war ihre Schuld, wie immer. Sie erinnerte sich eines Traumes, nicht das erste bewusste Wahrnehmen ihrer unbewussten Schuldzuweisung, ihrer Selbstverurteilung. Sie war kein Lamm, sicherlich, aber das Blut, das sie wusch, war dennoch jedesmal zuviel. Im Traum steuerte sie also einen Citroën Grand C4 Picasso, sie erinnerte sich deshalb so genau, weil das der Wagen war, den ihre Familie in goldenen Zeiten neu gekauft hatte, und zu dem Zeitpunkt auch noch fuhr. Im Traum saß sie am Lenkrad, in späteren Reflexionen hatte sie es theatralisch als „Steuer des Familienwagens“ gedeutet, und steuerte das Fahrzeug. Aus Umständen, die sich ihr nicht erschlossen, fuhr sie zu dicht an einer Laterne vorbei, die auch ein Verkehrsschild gewesen sein konnte, und rammte sie mit dem Spiegel, was diesen abbrach. Nichts weiter, das war es gewesen, danach noch irgendwas mit dem Papst und einem Ring, das sie nicht verstand, aber sie konnte nicht schlafen, weinte, bis die Mutter kam, und wissen wollte, was los war. Dann erzählte sie den Traum, und ging irgendwann ins Bett. Ob sie danach schlafen konnte, wusste sie nicht. Aber bis heute stand ihr das Bild vor Augen, wie die Landschaft vom Lenkrad aus ausgesehen hatte. Sie wird nie einen Führerschein machen, sie hatte Angst. Dabei hatte sie auch ohne Führerschein sämtliches zerbrochen, und eben den Vater aus dem Schlaf gerissen, aus Unachtsamkeit. Sie hatte nur sich selbst im Kopf gehabt, sagte der Vater, der wirkliche, und flogen die Steine. Die Kopfschmerzen waren schon vorher da.


Ob sie nicht ins Bett gehen könne, wie alle normalen Menschen, hatte der Vater gesagt. Der Vater wälzte sich immer noch, es war ihre Schuld. Und alles, was er vermutlich denken konnte: es war ihre Schuld. Die Schuld der Tochter, die er für einen Sohn hielt, die große Enttäuschung, immer und immer wieder. Wie, nur wie, war der Weg, damit umzugehen? Der Vater wird sie verfolgen, wohin auch immer sie floh, wird sie daran hindern, Auto zu fahren, Kinder zu erziehen, oder auch nur irgendetwas zu erreichen. Sie wird nie etwas erreichen.


Nicht, weil sie es nicht konnte, oder nicht wollte. Sie glaubte, dass sie Fähigkeiten mitbrachte, die sie mit ein wenig Ehrgeiz durchaus an andere Orte bringen konnten, und sie hatte durchaus den Willen, auch für sich selbst, woanders zu stehen. Irgendwo zu stehen, auf dem Podest, auf dem die Eltern ihr stolz auf die Schulter klopfen werden. Dennoch wird sie nie etwas erreichen, wenn sich nicht grundsätzlich etwas änderte. Und diese Veränderung ging nicht, wie sie bisher geglaubt hatte, die Beziehung zu ihrem Vater etwas an, sondern ausschließlich sie selbst. Die Beziehung war auch etwas Schönes, an dem sie arbeiten wollte. Aber das war sekundär. Konnte sie es alleine schaffen? Sicher nicht. Sie kannte mindestens noch eine Person, die eine genauso verquere Beziehung zu ihrem Urvater hegte. Ja, sie pflegte das, was schlecht für sie war, gab behutsam acht, dass sich nichts löste. Sie war müde, ihre Augen fielen immer öfter zu. Sie musste schreiben. Sie war eine Versagerin, und sie gab sich selbst die Schuld. All dies, das abgebrochene Studium, der Umzug nach Tel Aviv, sie hatte es immer geahnt. Es war eine Flucht vor dem Erfolg, ein Weg, ein Ausweg, dass die Eltern nie stolz auf sie sein werden mussten. Sie wird achtgeben, nie etwas zu erreichen.


Sie gab sich selbst die Peitsche, hatte sich längst an den Staub gewöhnt, der Schweiß und die Tränen waren im Salz ihr zu Freunden geworden. Es wird Großes kosten, auszubrechen. Es wird sie selbst kosten, es nicht zu versuchen.


Der Vater hatte ein ungewöhnliches Talent dafür, ihr Selbstbewusstsein im Fingerschnippen zu zerstören. Aber, da machte sie sich nichts vor, sie brauchte den Vater nicht dazu. Es gab den einen, den offensichtlichen Konflikt: der Vater kam nicht damit klar, dass sie noch so anders war, in sexueller Orientierung, in Geschlecht, in Bildung, dass sie ihm gleichzeitig so ähnlich war, dass sie ihn spiegelte. Den Vater umtrieben Bilder von Männlichkeit, sie verletzte seine Würde. Der Vater hatte sich nie eingestanden, wie sehr ihn das Ausziehen der Tochter mitnahm, wie er nie darüber weg kam, dass sie jetzt woanders ihre Wurzeln schlug und ihre Meister fand. An ihrem Internat hatte sie eine tiefe Auseinandersetzung mit einem Lehrenden gehabt, ohne dass sie viel miteinander gesprochen hatten. Seine Autorität, sein Suchen nach Anerkennung, seine verletzten Ellenbogen waren die des Vaters gewesen. Damals konnte sie sich das alles nicht erklären, aber jetzt verstand sie: der Lehrende hatte den Urvater in ihr geweckt, war zu ihm geworden. Er wird ihr begegnen, wohin auch immer sie sich wandte. Der Vater nahm sie nicht ernst, interessierte sich nicht für ihre Gefühle, hatte kein Verständnis für ihr nachdenkliches und zurückgezogenes Wesen, auch nicht ihre künstlerische und geistige Veranlagung, lobte sie nie und tadelte sie häufig. Und jedesmal war es ein Peitschenhieb, der sie zu Boden warf. Der Vater kritisierte nicht ihr Verhalten, dass sie es besserte, wenn sie mit seiner Kritik einverstanden war, sondern zweifelte sie selbst an. Sie hatte schon so häufig versagt, es war nicht schwer, das auch wieder zu tun. Schwieriger wäre: etwas zu erreichen, stolz zu sein, aufrecht zu stehen. Statt den Staub vom Rock zu klopfen, und geduckt weiterzueilen, wie ein Hund, der die wütende Hand seines alkoholisierten Herrn fürchtete. Sie zog sich aus Konflikten zurück, sie handelte im Alleingang, sie zeigte sich unentschlossen, sie nahm Schuld auf sich, sie nahm nichts ernster als Kritik, sie fürchtete sich vor dem Alleinsein, sie schreckte vor Stolz, Anerkennung und Leistung zurück, sie hielt nicht viel von sich selbst, sie scheute vor Verantwortung, sie war ungeschickt. All dies hatte sie dem Vater zu verdanken, nicht nur ihm, aber auch ihm. Vor allem ihm. Der Vater war stark gewesen, eine starke Person in ihrer Erziehung, in ihrer Vergangenheit, jemand, der alles andere in den Schatten stellte. Und er war immer da, wenn sie heute deutlich spürte, ein Niemand zu sein. Wollte sie sich selbst besser kennenlernen, und endlich aus diesen Löchern und Kreisen entweichen, musste sie den Vater betrachten. Sie hatte Angst vor Beziehung, Abhängigkeit, nicht nur vor Kindern, sie hatte Angst ihrem Vater zu ähneln, ihm dort zu begegnen.


Es war also einmal ein kleines Kind, das hatte Eltern und lebte daheim. Es fehlte ihnen an nichts, mochte man meinen. Und so war es auch, lebten sie doch ein glückliches Familienleben. Das war Schwachsinn, sie konnte es nicht. Geschichten erzählen, vielleicht, aber nicht systematisch. Sie wird nichts verstehen, schon gar nicht allein. Sie brauchte jemanden, der ihr zuhörte. Aber jetzt wird sie nicht weglaufen, wird zu Bett gehen, und hoffen, dass sich das Gewitter morgen verzogen haben wird. Wie immer. Gefangen im vorhersehbaren Rythmus der Antworten.

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