„Mit 1,8 Kilometer langen Zügen transportiert die DB Schwefelgranulat durch die arabische Wüste.“ Das kam der Schreibenden bekannt vor, nicht erst seit Gandhis vernichtender Kritik an Eisenbahnen. „Die DB hilft mit ihrem Know-how – und mit deutschen Experten“, so ähnlich müssen auch deutsche Tageszeitungen zu Beginn des letzten Jahrhunderts getitelt haben, Türkei statt Abu Dhabi. Bilder von Kamelen und endloser Wüste sind obligatorisch.
Das hintere Fahrzeugteil wird in Gera verbleiben, der vordere irgendwo anders hin, weiter fahren, nur der mittlere fährt nach Hof, warnt eine knisternde Lautsprecherstimme. Vielleicht erschien es der Reisenden auch nur bedrohlich, weil sie sich im hinteren Wagen befand, und Gott bewahre nicht verpassen wollte, in Gera über den Bahnsteig zu hetzen und sich in die Mitte zu retten. Griechenland schiebt 202 Migranten ab, der Symmetrie der Zahl wegen hatte man die beiden wohl über dem Leitartikel des Politikressorts belassen. Die ältere Dame klebte mit ihren Augen an einer Seite der Zeitung, die sie ihr verbarg, und sah zugleich so gelangweilt aus, dass selbst die zwei Migrierten sie nicht aus der Fassung bringen werden können, wenn sie bald auf der Rückseite ankam. Es lag nicht an Gera, außer Vorurteilen kannte sie die Stadt kaum, sondern am Hindernis, das Gera auf dem Weg nach Hof darstellen könnte, und dann weiter nach Regensburg und Passau. Die als Zugbegleiterin verkleidete erschien und verlieh der bedrohlichen Stimme ein gemütliches Gesicht. In der Regionalbahn gab es keine Steckdosen, sie wird also nur bis ans Ende der Batterie schreiben können. Aber diesmal hatte sie das Ticket ausdrucken lassen, und war so nicht auf eine externe Stromversorgung angewiesen. Der Zustand des auf-dem-Weg-seins umspielte ihr Herz, ließ sie selbst den sich aufspaltenden Regionalzug nicht nur ertragen, sondern sogar begrüßen. Sie wird sich mit Leidensgenießenden über sächsische Dörfer quälen, dann durch Thüringen, um schließlich in Gera umzusteigen, wie die Zugbegleitende ausdruckslos ihre Bedenken bestätigte. Nächster Halt Leipzig-Knautheim. In dem Roman, den sie las, war ihre Heimatstadt, ihre Heimatstadt im klassischen Sinne, und ebenso Heideggers, und Gröbers, und weiterer Sympathisierenden des Nationalsozialismus, wenngleich nicht alle ihre willig folgenden Institutionen mit hinein stießen, als wäre der Nationalismus die Hölle. Der Nationalsozialismus war kein politisches Ereignis, auch kein Ort des Religiösen. Nichts, womit sie Kindern drohen würde. Wenn ihr brav seid, kommt der Nationalsozialismus, und wenn ihr dann Gehör schenkt und Gefolge leistet, gebt und nehmt, werdet ihr nicht vernichtet werden. Sie rief zu Empörung auf, als ob es jemanden interessierte, manchmal laut auf der Straße, manchmal klebrig an Straßenlaternen, manchmal nur auf ihrer Selbstrepräsentationsplattform. Tippfehler waren nicht auszuschließen, sie saß mit der Sonne im Rücken. Angenehm, aber nicht im und mit Blick auf den Bildschirm. Sachsen hügelte sich noch nicht, sondern lag flach wie ein schlafendes Suppenmonster, das versalzen worden war. Sie saaß auf einem jener Klappsitze, für die sie keine bessere Bezeichnung fand. Navigation über die Seite war erschwert. Die Frau neben ihr, die noch in ihrem Buch gelesen hatte, war bereits ausgestiegen, in Leipzig noch. Ihre Heimatstadt war also in Dein Name aufgetaucht, ganz plötzlich. Ihre Heimatstadt, sie wusste nicht warum sie das zu relativieren hatte, warum es so untreffend klang, warum sie nichts berührte, dass Kermani sie lediglich als klangliches Element in der Aufzählung süddeutscher Dörfer verwandte. Ob Kermani wusste, was er da sagte? Woher jenes Meßkirch kam, das er so unverhofft fallenließ, dass es der Lesenden scharf in die Glieder fuhr? Meßkirch war einmal alles für sie gewesen. Trivial zwar, aber doch. Grundschule, Schwimmverein, Erstkommunionsgruppe, Heimatmuseum, Schlossfest. Sie wird Meßkirch nicht einfach so erwähnen, in einem Atemzug mit dem Erdachten. Sie wird dem Dorf auch nichts abgewinnen können, keine synekdochale Verbildlichung, keine rhythmische Auseinandersetzung, kein Lob und keine Klage. Meßkirch war ein unbestimmter Fleck in ihrer Kindheit, den sie nicht einzuordnen fähig war. Vielleicht war es tatsächlich einfach Indifferenz gegenüber einem Ort, der weder Spuren in ihr hinterlassen hatte, noch dessen Feldwege sie führten. Meßkirch existierte aber doch, war Teil ihres Lebens, Teil der Beschreibung. Sie musste sich mit dem Klappsitz begnügen, weil sie zuviel Zeit im in der Bahnhofsbuchhandlung verbrachte und individualisierende Disziplinarmuster sie davon abhielten, eine einzeln Sitzende um die Freigabe des Nachbarssitzes zu bitten. Gera ließ auf sich warten.
Gera war passiert und neben ihr las eine Studierende mit buntem Schal einem Mitreisenden, den sie allem Anschein nach noch nicht lange kannte, einen Artikel über das neue reaktionäre Prostitutionsgesetz vor. Eine spannende Situation, zwei Welten trafen sich, wie sie einander sonst selten begegneten. Ich kann nicht studieren, sagt der Mitreisende. Die Studierende ermuntert. Nein, ich kann nicht lernen, was mir jemand vorschreibt. Die Studierende studiere im zwölften Semester, und sei frei. Der barfüßige Mitreisende schüttelt seinen dreadbelockten Kopf, ich lerne lieber im Wald. Nicht oft kommt auch die Schreibende dazu, rechtzufertigen, weshalb sie studiert. Wenig Platz für grundsätzliche Fragen in sozialen Kreisen. Zwischendurch musste sie Antwort leisten. Ob sie ein Junge oder ein Mädchen sei, fragte die 4-Jährige, und ließ keine Ruhe. Ob sie ein Junge oder ein Mädchen sei. Die Frage überraschte sie, positiv. Sie dachte, dass es da nichts zu fragen gebe, und sie einfach als Mann gelesen würde. Das schien nicht der Fall zu sein, laut Kindermund. Wie die 4-Jährige nicht locker ließ! Dabei war sie ehrlicher gewesen als je zu einem Menschen, hatte ihr und dem ganzen Zugabteil mehr über ihr Geschlecht gesagt, als sie es sich zugetraut hätte. Es war ein Spiel gewesen, auch weil das störrische Fragen der Enkelin der Großmutter sichtbar unwohl war, aber sie ignorierte die Ermahnungen. Sie stellte gute Fragen, einfache und so schwere. Sie ließ ihr keine Ausflucht, am Anfang hatte die Schreibende noch geantwortet, was sie jedem gesagt hätte: das kannst du selbst entscheiden. Auch ohne diese Erlaubnis entschieden es die Menschen um sie herum, sie wehrte sich auch nicht dagegen. Aber niemals würde sie sagen, dass sie ein Junge sei. Das wäre ihr selbst gegenüber nicht ehrlich, worum sie sich sonst nicht sonderlich sorgte, aber hier bereitete es ihr ein ungekanntes Unbehagen. Schließlich einigten sie sich darauf, dass die Schreibende „mehr Mädchen als Junge war“, und damit waren beide zufrieden. Die Schreibende dachte über die Möglichkeiten nach, die sich ihr plötzlich eröffneten. Sie war kein Junge, und hier war jemand, der sie das plötzlich fragte. Nicht einfach einen ambiguosen Ort, der sie scheinbar war, willkürlich zuordnete. Wie die Großmutter, natürlich ist er ein Junge, er hat nur lange Haare. Aber damit war die 4-Jährige nicht zufrieden, und die Schreibende auch nicht. Die Neugier verband sie, das sprachliche Element des Fragens wurde Ausdruck ihrer gegenseitigen Wertschätzung.
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