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gesehen werden

Was sahen die Menschen auf der Straße in ihr, große, unbeantwortbare Frage. Wenn sie in ihre Augen schaute, war da meist Desinteresse. Sie brauchte sich nicht einbilden, dass Kategorisierung ein aktiver Prozess war, und dass ihr Körper Menschen so sehr irritieren würde, dass sie ihr Kategorisierungskonzept hinterfragen würden. Sie tat sich doch selbst schwer damit. Der Automatismus hatte Wege gefunden, mit auslagernden Sonderfällen umzugehen. Vielleicht landete sie einfach in jener Absurditätenkiste, oder verschwand hinter dem indefiniten Label des schwulen Mannes, der alles sein konnte, nur kein Mann. Homosexuelle Cismännliche Bewegungen hatten viel daran gearbeitet, gesellschaftlich akzeptable Männlichkeit auszuweiten. Wenn auch sie, trotz aller Unproduktivität und Gegenperformanz, Männer sein konnten, wie konnte sie es dann nicht sein? Es war ihr egal, wenn Leute auf der Straße sie mit der Cisgender Weißen Schwulenbewegung identifizierten. Nicht egal, aber es tat nicht so weh, als wenn sie in diesem Prozess ein Mann wurde. Sie wollte ja noch nicht einmal Kategorien herausfordern, wollte ja noch nicht einmal politisch sein, wollte ja noch nicht einmal kämpfen. Einfach nur nicht Mann sein müssen, war das zuviel verlangt? Bitte – kategorisieren Sie mich als Lesbe, als Transe, als Wahnsinnige, aber doch nicht als Mann. Ich flehe Sie an, Sie tun mir Gewalt. Natürlich können Sie davon nichts wissen, ich habe Ihnen nichts gesagt. Verstehen Sie denn nicht? Wie konnte sie sich denn jemals wohl fühlen, wenn sie darauf bestand, öffentlich als Mann wahrgenommen zu werden? Weshalb kümmerte sie es so sehr? Sie war in ihrem eigenen Kopf verhaftet, kam nicht weiter. Sie sah all diese Fotografien von schönen Trans*personen, was war nur los mit ihr? Sie hatte es immer abgelehnt, dann Frau sein zu müssen, geschweige denn sie einen Weg sah, dort hin zu gelangen. Sie hatte sich festgefahren. Mitleidig betrachtete sie die Schaufensterpuppen, feminin stilisiert, als wäre es in Ordnung, Objektifizierung an ihnen abzuwüten. Die Puppen im Leipziger Völkerkundemuseum, modelliert in Proportionen nach den Rassevorstellungen eines Eugenikers. Warum überhaupt war es so wichtig, dass rassisierte Figuren, dass vergeschlechtlichte Figuren die Klamotten und Weltsichten ihrer Besitzenden zur Schau trugen? Auch ihr Körper war maskulinisiert, nicht nur Konzepte von Krieg und Nation, eingezwängt in ein binär-unterdrückendes System, das den männlichen Körper an oberste Stelle, ja, das Menschen aufgrund jenes Körpers Macht zusprach, und anderen entzog. Wie jedoch war dieser internalisierte Prozess umzukehren, wie hatte sie sich zu de-maskulinisieren, ihren Körper also aus ebenjenem System zu lösen? Sie konnte wenig nachvollziehen, weshalb ihr Körper, also auch ein Weißer, geableter, männlicher Körper, sie selbst in ein Machtgefüge einordnen sollte. Sie hatte keine Intentionen, ihren Körper als weiblich passierend zu machen, noch wollte sie an diesem Punkt irritieren. Sie wollte einfach nur sein können, aber ihre bloße Existenz war politisch. Wenn ihr schon aufgrund ihrer hochdeutschen Aussprache Macht nicht abgesprochen wurde, und Autorität, Wissen zu produzieren. Nicht nur die Treue zur Nation stand als Männin bei ihr nicht infrage, auch die Zuverlässigkeit ihrer Worte blieb unangetastet. Das waren Machtgefüge, komplexer als einfache Binärkonstrukte von Privileg und Unterdrückung. Stattdessen projezierte sich das Begehren auf Bilder, die Körper waren. Bilder, die nicht Macht entwickelten, indem sie auf sie wirkten, sondern selbst schon Macht waren. Weshalb kümmerte sie es so sehr, wie Menschen sie auf der Straße betrachteten? Weshalb lag ihr so viel daran, ihren Körper von Fremd- und Eigenfremdzuschreibungen zu trennen?


Februar 2016

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