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wörterbuch: geschichte

trans Geschichte ist ein gigantisches Loch in der Forschung und im Bewusstsein unserer Gemeinschaften. Das geht vielen marginalisierten Minderheiten so. Auch die Geschichtswissenschaft arbeitet innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse und schreibt in Deutschland meistens Geschichte von weißen deutschen cis Männern für weiße deutsche cis Männer. Dass sie Minderheitengeschichten ausblendet ist Ergebnis transfeindlicher, antisemitischer, rassistischer, be_hindertenfeindlicher, antiromaistischer, sexistischer Ignoranz. Dieses bewusste oder unbewusste Unsichtbar-machen unserer Geschichten funktioniert als Herrschaftsinstrument: Wir werden unserer Bezugspunkte, unserer Vorbilder, der Widerstandsgeschichte und des Wissens unserer Gemeinschaften, und der Normalität unserer Existenzen beraubt. Aber nur weil nicht darüber geschrieben wird, heißt das nicht, dass wir keine Geschichte haben. Unsere Gemeinschaften haben eine jahrhundertealte Geschichte, die wir ausheben und auf die wir uns beziehen können. Dass wir in deutschen Geschichtslehrbüchern nicht existieren, heißt nicht, dass es nicht auch schon vor hundert Jahren trans Personen und trans Widerstand gab. Es heißt nur, dass sie in einem transfeindlichen Umfeld entstanden sind, das uns unsere Existenz absprechen will.

In trans Gemeinschaften gibt es oft wenig Weitergabe von Wissen über die sich berührenden Generationen hinaus. Viele von uns leben in Isolation und haben keinen Zugang zu unseren Gemeinschaften. Und Kinder von trans Personen haben oft wenig Interesse an den Erfahrungen ihrer Eltern, wenn sie nicht selbst trans sind. Das macht die Vermittlung unserer Geschichte schwierig. Auch trans Personen wurden im Nationalsozialismus verfolgt. Aber dazu wird kaum geforscht. Von einer Handvoll Fallstudien abgesehen, die alle selbst diskriminierende Wörter und falsche Pronomen verwenden, habe ich nichts gefunden. Was daraus ersichtlich ist, ist ein sehr diffuses Bild und eine große Willkür der Behörden: zum Teil wurden trans Personen registriert und polizeilich erlaubt, Klamotten zu tragen, zum Teil wurden Vornamensänderungen gewährt. Sie standen im Visier des Gestapo-Dezernats Homosexualität und der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung im Reichskriminalpolizeiamt. Darüber hinaus wurden sie als Asoziale und Arbeitslose verfolgt, weil ihnen oft Zugänge zum Arbeitsmarkt verwehrt waren. Asozial ist eine nationalsozialistische Idee und setzt ein heilbares Herausfallen aus der Gesellschaft voraus, das dem Volkskörper schade. trans Personen, die die nationalsozialistische Verfolgung überlebten, wurden auch in der Bundesrepublik und in der jungen DDR kriminalisiert und lebten weiterhin in einer Gesellschaft, in der trans-Sein stigmatisiert und diskriminiert wurde. Die nationalsozialistischen Ideen, was normal war und wie Geschlecht in der Gesellschaft zu funktionieren hatte, hörten ja nicht einfach auf zu existieren. Auch in der DDR, und noch mehr in der Bundesrepublik, waren ja die meisten Ärzt_innen, Jurist_innen und Politiker_innen als Nazis ausgebildet worden. So konnten sie ihre Geschichten nicht erzählen, wenn sie sich nicht weiter Verfolgung aussetzen wollten.

In der Weimarer Republik gab es vor allem in den Großstädten eine ausgeprägte trans Kultur, die so sichtbar war, dass trans und Drag für die Nazis zum Symbol für den Verfall der deutsch-völkischen Moral und die Dekadenz der Republik werden konnten. Dann stand das Tragen von Klamotten nicht per se unter Strafe, sondern nur, wenn nach dem Ermessen der Polizei die öffentliche Ordnung gefährdet sei oder ein Fall der Erregung öffentlichen Ärgernisses vorliege. Es ging also um perfektes Passing, und cis Polizist_innen entschieden darüber. trans Personen, die eine Vielzahl von Selbstbezeichnungen führten, von denen die meisten heute als verletzend empfunden werden, unterlagen polizeilichen Kontrollen und mussten polizeilich registriert werden, wenn sie aufgegriffen wurden und ihr Pass sie bei der Kontrolle als trans Person outete. Ein schon seit 1909 im Kaiserreich ausgegebener Passierschein auf Grundlage eines medizinischen Gutachtens konnte vor willkürlicher Repression schützen, bedeutete aber auch die Registrierung bei der Polizei. Sie konnten jederzeit in Schutzhaft genommen werden und standen unter dem Generalverdacht als homosexuelle Prostitution illegalisierter Sexarbeit. Vornamens- und Personenstandskorrektur war seit dem Ende des 18. Jahrhundert in einigen deutschen Ländern für inter Personen möglich, jedoch konnte ab Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr der Personenstand nicht mehr selbst gewählt werden, sondern wurde von außen zugeschrieben. Dies war im Kaiserreich für eine trans Person über ein Gutachten von Magnus Hirschfeld 1912 möglich, damals (im Gegensatz zur Gesetzgebung in der Bundesrepublik) auch ohne Zwangssterilisation. Weitere Ersuche von trans Personen auf Vornamens- und Personenstandsänderung wurden allerdings abgelehnt, so auch in den Anfangsjahren der Weimarer Republik. trans Personen leisteten dagegen Widerstand, indem sie kreativ aus ihren zugewiesenen Vornamen geschlechts-neutrale Rufnamen machten oder ihren Vornamen nur mit dem Anfangsbuchstaben in den Papieren vermerken ließen. In der Weimarer Republik waren Änderungen in den Papieren, die trans Personen betrafen, abhängig von der persönlichen Entscheidung des Justizministers, der medidizinische Gutachten anforderte, und bei positiver Entscheidung die Änderung im Deutschen Reichsanzeiger und im Preußischen Staatsanzeiger veröffentlichte und damit trans Personen fremd-outete.


Diese Geschichte zu erforschen und zu kennen ist so wichtig für mich. Zu wissen, dass auch vor vielen Jahrzehnten Menschen ähnlich Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt waren, dass Menschen Widerstandsstrategien dagegen entwickelten und dass sie sich vielleicht solidarisierten und zur Wehr setzten. Das hilft mir zu verstehen, dass meine Existenz keine Trend-Erscheinung ist und dass es Traditionen des Widerstands gibt, an die ich anknüpfen kann.


Ich finde wichtig, dass cis Personen sich mit trans Geschichte auseinandersetzen, wenn sie mit uns in solidarische Bündnisse treten wollen. Ich weiß keine Veröffentlichung auf deutsch, für die US-amerikanischen Kontext gibt es Transgender History. The Roots of Today's Revolution von Susan Stryker, auch wenn ihre Geschichte eine ziemlich weiße ist, und erst mit der Kolonisation Nordamerikas beginnt. Mir ist wichtig, dass sich cis Personen bewusst machen, dass es uns schon mindestens genauso lange gibt wie sie, und dass wir uns schon seit Jahrzehnten und Jahrhunderten gegen transfeindliche Scheiße mit verschiedensten Strategien zur Wehr setzen. Sich damit zu beschäftigen ist bestärkend für uns: auf einmal sind unsere Existenzen selbstverständlicher Teil der Geschichte. Und wichtig für die solidarische antitransfeindliche Position von cis Leuten: denn mit Geschichte sind wir nicht mehr merkwürdige Wesen, die ihrer Hilfe bedürfen, sondern eine selbstbestimmte Gemeinschaft mit einer langen Tradition des Widerstands.

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